Im Zuge meiner Beschäftugung mit den "sync."-Wörtern bin ich auf OCLUS gestoßen:
Zitat von L&Sŏcŭlus (sync. oclus, Prud. στεφ. 10, 592 dub.), i, m. kindr. with Sanscr. akshi and aksha, from the root ītsh, videre; Gr. οσσομαι, οσσε; Goth. augō; Germ. Auge; Engl. eye, an eye.
Dort scheint aber nirgends oclus oder eine Beugungsform davon auf. Auf der letztgenannten Seite ist auch eine Zeilennumerierung angegeben. Die Zeile 592 lautet dort so:
Zitat sanus videbit, lippus oculos obteget.
Oclus dürfte also wirklich ziemlich dubios sein.
Ich würde vorschlagen, oclus in die Kategorie 4 zu geben. Oder sollten wir es ganz weglassen? Das widerspräche aber wieder unserem Grundsatz, dass wir uns in Zweifelsfällen an L&S halten.
Hier stellt sich auch die Frage, wie wir generell mir dubiosen Wörtern oder Formen umgehen. Es gibt in L&S (mindestens) 443 davon. Ich fürchte, dass man im Prinzip jeden Fall einzeln untersuchen müsste. Das ist aber wohl jenseits unserer Möglichkeiten.
Ich bin der Sache mit OCLUS nun auch endlich mal nachgegangen und habe wirklich Interessantes entdeckt!
Bei archive.org habe ich die Textstelle Prud.στεφ. 10, 592 in einer Ausgabe des Liber Peristephanon des Prudentius mit textkritischem Apparat gefunden:
Tamen in tenebris proferam claram facem, sanus videbit, lippus oculos obteget.
Und siehe da, die Form OCLOS scheint die Emendation eines gewissen Weitz zu sein. Es steht jedenfalls nichts von irgendwelchen Belegen in irgendwelchen Codices dabei. Nur Weitz wird genannt. Doch wie kommt ein Weitz dazu, einfach das U zu streichen?
Mithilfe der Gottwein-Seite Metrische Analyse - Längen und Kürzen habe ich in den beiden Prudentius-Versen die langen und kurzen Silben markiert und in den Editor eingegeben und vom Ergebnis einen umfassenden Screenshot angefertigt.
Wie wir sehen, klingt die Stelle mit den drei kurzen Silben hintereinander, die sich ergeben, wenn man OCULOS liest, etwas holperig. Wenn man hingegen die synkopierte Form OCLOS nimmt, dann erhält die erste Silbe dieses Wortes eine Positionslänge, und der Vers klingt vom Rhythmus her plötzlich rund.
Insofern ist die Kritik von Weitz nicht ganz unberechtigt. Doch wenn wir lesen, dass der jambische Senar in vielen Variationen auftreten kann, insofern als die langen Silben durch zwei kurze Silben und zwei Kürzen auch gern durch eine Länge ersetzt werden können, je nach Bedarf und Dichter (hierzu steht einiges auch im Rubenbauer-Hofmann § 273), so wäre der Versfuß -pus ócu- mit den drei aufeinanderfolgenden Kürzen und der Betonung auf dem kurzen ó nach meiner Einschätzung trotzdem nicht direkt falsch, wenn auch in diesem Prudentiusvers nicht besonders gelungen. Auf jeden Fall klingt der Versfuß -pus óc- mit der Länge und der Betonung auf der nunmehr positionslangen Silbe óc viel schöner.
Schwieriger Fall. Vom Versmaß her gefällt mir die Emendation von Weitz - keine Frage. Aber wie ist die Überlieferung? Die wäre doch maßgebend, nicht die Dichtkunst des Prudentius! Kein Sterbenswörtchen von einer überlieferten Lesart OCLOS in irgendeinem Codex, obwohl sich das hier in diesem Zusammenhang wirklich angeboten hätte, das im textkritischen Apparat zu erwähnen, wenn es eine solche gäbe. Da aber weder Georges noch das OLD noch der Langenscheidt eine synkopierte Nebenform OCLUS angeben, und da selbst L&S schreiben, dass diese Form zweifelhaft sei (ŏcŭlus (sync. oclus, Prud. στεφ. 10, 592 dub.)), bin ich auch dafür, mein lieber Linh. ex L&S+OLD, die moderne Weitzsche Emendation OCLUS für ungültig zu erklären, so schön sie auch klingen mag. Armer Weitz!
Meine Quintessenz ist also:
OCLUS ist meiner Meinung nach ungültig.
Ich schließe mich damit Linharts Auffassung an, dass OCLUS keinen Eingang ist latin.dic finden sollte.
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PS: Im Anhang befindet sich eine Audio-Datei zum Anklicken. Ich skandiere ganz bewusst sehr stark, ohne der natürlichen Betonung der Wörter in irgendeiner Weise Rechnung zu tragen. Es geht mir ja darum zu verdeutlichen, wie die Längen und Kürzen verteilt sind.
Ich kann nur staunen, wie du dieses Problem gelöst hast. Dass hier einer geglaubt hat, er müsse den Versrhythmus eines antiken Dichters verbessern!
Die Sache ist jetzt ganz klar, denn sogar wenn Prudentius OCLUS geschrieben hätte und das sonst nirgends vorkommt, würde ich es als dichterische Freiheit einstufen und nicht als gültiges Wort.