Kann man SAXUS (und den Vokativ SAXE) auf Grund des folgenden Eintrags in L&S als gültig ansehen?
saxum (in inscrr. also SAKSVM; from collat. form saxus; a vocative SAXE, Inscr. Orell. 2982), i, n. [root sak-; Sanscr. ska; cf. secare], any large, rough stone; a detached fragment of rock; a rock (in gen.; whereas rupes is a steep rock, crag, cliff).
Zitat von linhartKann man SAXUS (und den Vokativ SAXE) auf Grund des folgenden Eintrags in L&S als gültig ansehen?
saxum (in inscrr. also SAKSVM; from collat. form saxus; a vocative SAXE, Inscr. Orell. 2982), i, n. [root sak-; Sanscr. ska; cf. secare], any large, rough stone; a detached fragment of rock; a rock (in gen.; whereas rupes is a steep rock, crag, cliff).
Schwierige Frage! Ich interpretiere den Passus eigentlich dahingehend, dass nur in einer Inschrift (Inscr. Orell. 2982) dieser ungewöhnliche Vokativ vorliegt, wobei man sich fragen kann, wieso L&S diese Form dann nicht mit einem Doppelkreuz ‡ versehen hat. Es sind keine Belege für SAXUS angegeben; daher scheint mir die Nebenform SAXUS eine durch Rückschluss aus SAXE erschlossene Form zu sein. Falls SAXUS tatsächlich nirgends (z.B. konkret im Nominativ) belegt ist, könnte es sich bei der merkwürdigen Vokativform SAXE in der Inschrift sehr wohl auch um einen Fehler des in seinem Metier sicher tüchtigen, was Sprache anbelangt aber nicht allzu versierten Steinmetzen handeln; vgl. Bussinchens Unsicherheit im Umgang mit dem Vokativ bei Inanimata der Neutra der o-Deklination --> TABUM
Wenn Bussinchen unsicher ist, warum sollte bei irgendsoeinem einfachen Handwerker, der Steine bearbeitete und Inschriften einritzte, nicht ebenfalls eine solche sprachliche Unsicherheit aufgetreten sein... Es ist ja noch nicht einmal gesagt, dass dieser Steinmetz Latein als Muttersprache hatte... Vielleicht war er ein Gastarbeiter, ein ungebildeter Sklave oder dgl. Vielleicht lebte er in irgendeiner römischen Provinz, die durch die Eroberung durch die Römer zwangslatinisiert worden war... Was wissen wir schon. Bei Inschriften wäre ich also grundsätzlich etwas vorsichtig...
Die Inschrift wurde auf einer Marmortafel in Ravenna gefunden und stammt offenbar aus dem 1. Jahrhundert, wie anhand des Schriftstils festzustellen ist;
C. Iul(ius) Mygdonius, generi Parthus, natus ingenuus, capt(us) pubis aetate, dat(us) in terra(m) Romana(m). Qui, dum factus cives R(omanus), iuvente (= iubente) fato colocavi arkam, dum esse(m) annor(um) L. Peti(i) usq(ue) a pubertate senectae meae (= ad senectam meam) pervenire. Nunc recipe me, saxe, libens; tecum cura solutus ero.
Ich, C. Iulius Mygdonius, gebürtiger Parther, frei geboren, gefangen genommen im Alter der waffenfähigen Jugend, ins römische Land gebracht, der ich, während ich zum römischen Staatsbürger wurde, durch die Macht des Schicksals eine "arka" aufstellte, (ist hier vielleicht arca = Dose, Schatulle, Box gemeint?) wenn ich nur wäre der Jahre des L. Petius von der Pubertät bis zu meinem Greisenalter gelangen. Nun empfange mich, oh (Grab-?)Stein, mit Freude; mit dir werde ich von der Sorge gelöst sein.
Bussinchens Kommentar: Die Smileys am Anfang jeder Zeile zeigen die Sicherheit und Korrektheit meiner Übersetzung bzw. meine Unsicherheit an, wie ich den Text interpretieren soll. Die vorletzte Zeile kriege ich nicht auf die Reihe. Ich weiß nicht, wie das genau gemeint ist. Mir erscheint der lateinische Satz recht chaotisch, d.h. schlichtweg falsch. Z.B. kann ich mit dem pervenire am Ende der Zeile dum esse(m) annor(um) L. Peti(i) usq(ue) a pubertate senectae meae (= ad senectam meam) pervenire in Verbindung mit essem nichts anfangen.
In der Inschrift gibt es tatsächlich mehrere Indizien dafür, dass das Latein, das wir dort vorfinden, nicht astrein ist.
Die Tafel wurde also tatsächlich von einem Ausländer (einem Parther) errichtet oder in Auftrag gegeben ( --> positus esset ab homine peregrino.) Es sieht so aus, als ob es sich bei iuvente um einen sprachlichen Fehler handelt (= iubente); und es scheint eine Unsicherheit beim Gebrauch des Akkusativs vorzuliegen: senectae meae statt senectam meam. Es kommt ein Wort mit K vor: ARKAM, was äußerst ungewöhnlich (unlateinisch) ist. Stilistisch gesehen ist es merkwürdig, dass gleich zwei Nebensätze in dieser Art mit dum eingeleitet werden, wo ich an sich eher ein cum erwarten würde. Das Wort senecta ist unklassisch. Und wir haben einen Rechtschreibfehler: collocavi wird mit zwei L geschrieben und nicht, wie hier, nur mit einem.
OK, ich bin kein Experte für Inschriften, aber ich würde aufgrund dessen, was ich zu dieser Inschrift gefunden habe, nicht allzu viel auf die Form SAXE geben, und schon gleich gar nicht von SAXE auf die Zulässigkeit der offenbar oder möglicherweise gar nicht belegten maskulinen Form SAXUS rückschließen. Wenn die Form SAXUS irgendwo anders konkret belegt wäre, hätte L&S das doch sicher angegeben.
Ich bin also sehr sehr skeptisch, was die Zulässigkeit von SAXE und SAXUS betrifft.
Nbf. saxus, u. zwar Nomin. saxsus (so!) , [2510] Corp. inscr. Lat. 10, 4431 u. Vok. saxe, Corp. inscr. Lat. 11, 137.
Im L&S steht: saxum (in inscrr. also SAKSVM; from collat. form saxus;
Ich plädiere daher für SAXE und SAXUS unzulässig.
Die nur in Inschriften belegten Formen SAKSVM und SAXSUS halte ich schlichtweg für Rechtschreibfehler. Vielleicht waren diese Steinmetzen ja Legastheniker oder hatten keine Ahnung von den lateinischen Rechtschreibregeln. Wer weiß, wie z.B. die Parther Latein gesprochen und geschrieben haben. Es ist ja auch nicht immer alles so einfach, wenn man als Ausländer in einem fremden Land lebt...
Was ich nicht verstehe, ist, warum im L&S nicht irgendwas von incorrect spelling oder dgl. steht. Vielleicht werden in Stein gehauene Inschriften etwas anders gehandhabt als die "richtige" Literatur, die in Handschriften überliefert ist. Die Inschriften stellen ja authentisches Latein aus allererster Hand dar, während Handschriften/Codices/Palimpseste/Papyri ihrerseits meistens schon x Abschriften vom nicht mehr vorhandenen Original des lateinischen Autors sind. Vielleicht werden Inschriften daher ernster genommen als Codices. Trotzdem plädiere ich dafür, dass wir solche offensichtlich falschen Formen, die zudem nur vereinzelt vorkommen, nicht in unser latin.dic aufnehmen. Ich hätte keinerlei Verständnis dafür, wenn der Computer in einem lateinischen Scrabble3D-Spiel SAXSUS legen würde, und das vielleicht gar noch im Anfechtmodus, wo ich als Gegner bestraft würde, wenn ich dieses Wort anzweifeln würde!
Diese Studie öffnet mir ein wenig den Blick auf die Probleme mit Inschriften, sodass ich das auch bei ähnlichen Fällen vielleicht besser bewerten kann.
Inschriften sind Texte, die eben meistens vom gemeinen Volk verfasst wurden: von Steinmetzen, von Handwerkern, von Sklaven, von Einheimischen, von Ausländern, von irgendwelchen Auftraggebern, die mehr oder weniger gebildet waren, und und und.
Inschriften, wie auch Grafitti in Pompei, sind für uns heute daher ganz wichtige authentische Belege dafür, wie die Leute damals Latein gesprochen haben. Man kann Rückschlüsse auf Aussprache und Grammatik der Sprechsprache ziehen. Interessant ist z.B. die Unsicherheit im Umgang mit der Kasusflexion, die wir bereits bei unserem Parther sehen und die sich dann ja immer mehr verbreitet hat, auch deswegen, weil die Endungen im gesprochenen Latein verschlungen, d.h. undeutlich ausgesprochen wurden; und tatsächlich ist in den romanischen Sprachen dann das Kasussystem ja auch zusammengebrochen.
Insofern sind Inschriften Spitze, auch wenn diese mit größter Vorsicht zu genießen sind, was die Scrabble-Tauglichkeit von Wörtern und Wortformen betrifft. Der Text eines hochgebildeten Herrn Plinius, eines Varro oder eines Cicero ist als Beleg hinsichtlich der Frage der Scrabble-Zulässigkeit von Wortformen schon ganz anders zu bewerten als das Gekritzel irgendsoeines im Krieg gefangengenommenen und nach Rom verschleppten Ausländers, der einfach drauflos redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist... Und der Handwerker macht natürlich das, was sein Auftraggeber von ihm verlangt: Der hatte wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass an dem Satz etwas falsch ist, weil er selber so redete...
Mir hat diese Inschrift auch riesigen Spaß gemacht, Linhart! Ich sag's ja: Latein kann wirklich sehr unterhaltsam sein!
Im Zuge meiner Überlegungen zu den Collateral forms überlege ich gerade, ob wir die Formen SAKSVM und SAXE - und nur diese!, also keine weiteren Beugungsformen! - nicht doch in die Kategorie 5 (5 = Wörter, die nur in Inschriften vorkommen) aufnehmen sollten, ungeachtet der Tatsache, dass es sich eindeutig um Rechtschreib- und Grammatikfehler handelt...
Nebenbei bemerkt: Die Kategorie 5 würde ich beim 3D-Scrabblen auf Latein sowieso deaktivieren...
Auf Grund des folgenden Artikels im Oxford Latin Dictionary halte ich nun doch SAXUS für eine gültige Form:
Zitat von Oxford Latin Dictionary (OLD)saxum ~i n. Also ~us ~i m. [SECO; cf. OHG sahs] GENDER: masc. VITR. 7.1.3. CIL 10.4431, 11.137. ORTHOGR.: saxs- CIL 4.1895, 6.1289 etc.
VITR. = Vitruvius Pollio ist ein "writer on architecture" und daher vermutlich doch ernst zu nehmen.
Ich kann aus der angegebenen Stelle aber nicht erkennen, dass es sich wirklich um eine Form von saxus und nicht von saxum handelt:
Zitat von http://la.wikisource.org/wiki/De_architectura/Liber_VIITunc insuper statuminetur ne minore saxo, quam qui possit manum implere
Die Vitruv-Stelle, die du zitierst, ist aber tatsächlich kein eindeutiger Beleg für SAXUS maskulin, da SAXO theoretisch von sowohl SAXUS als auch SAXUM kommen kann.
Stellt sich die Frage, wieso das OLD dann ausgerechnet diese Stelle als Beleg für die maskuline Form angibt. Ich könnte mir nur denken, dass es vielleicht andere Vitruv-Ausgaben gibt, wo sich der Herausgeber für eine andere Lesart entschieden hat, die einen eindeutigen Beleg für die maskuline Form darstellt.
Um dieser Sache auf den Grund zu gehen, muss ich wieder anfangen zu recherchieren. d.h. ich muss ordentliche Vitruv-Ausgaben mit textkritischem Apparat finden. Dass Wikisource keinen textkritischen Apparat dabei hat, finde ich schlimm...
In einer Vitruv-Ausgabe von 1586 findet sich ebenfalls die Lesart SAXO, die uns in Bezug auf die Frage, ob dieses Wort maskulin oder neutrum ist, keine Antwort gibt...
Und in einer Vitruv-Ausgabe von 1892 ist es dasselbe: Auch dort findet sich wieder die Lesart SAXO, die uns in Bezug auf die Frage, ob dieses Wort maskulin oder neutrum ist, leider keine Antwort gibt...
[4] Tunc superstatuminabis rudus, id est, saxa contusa duabus partibus et una calcis temperante consitues.
- gibt uns jedoch keinen Aufschluss über etwaige alternative Lesarten zu SAXO in verschiedenen Codices.
Die Angabe Idem Maii Cap. 11 bezieht sich auf dasselbe Werk Opus agriculturae von Palladius, und zwar auf das Buch über den Monat Mai: Liber VI siue Mensis Maius - http://www.forumromanum.org/literature/palladius/agr6.html#2. Auch bei diesem Satz handelt es sich also nur um einen Verweis Palladius, der hier auf Vitruv Bezug nimmt, und eben leider nicht um eine alternative Lesart zu SAXO:
Sed si hoc placuerit, sternemus duplices ordines tabularum transuersos atque directos et paleam uel filicem supra constituemus aequaliter. Aequabimus saxo, quod manum possit inplere.
Ich habe jetzt nochmals im Georges nachgesehen. Dort ist etwas genauer erklärt, wie man zur Form SAXUS kommt:
Zitat von Georges-1913Nbf. saxus, u. zwar Nomin. saxsus (so!), [2510] Corp. inscr. Lat. 10, 4431 u. Vok. saxe, Corp. inscr. Lat. 11, 137.
Das OLD in allen Ehren, aber ich habe auf Grund deiner Recherchen sehr stark den Eindruck, dass dort ein Irrtum vorliegt. Ich schlage daher vor, dass SAKSUM, SAXSUS, SAXUS und SAXE allesamt in die Kategorie 5 kommen.
SAXSUS ist zwar in L&S nicht erwähnt, ich würde es aber ausnahmsweise doch aufnehmen. Ich denke, dass wir uns in Kat. 5 solche Freiheiten erlauben dürfen.
Bevor ich meinen Schlusskommentar zu den Formen SAXUS & Co. abgebe, möchte ich berichten, dass ich herausgefunden habe, dass die im Georges genannte Inschrift Corp. inscr. Lat. 11, 137 identisch ist mit der im Beitrag #3 angegebenen Inschrift Inscr. Orell. 2982, siehe http://books.google.se/books?id=88xjSnQC...%202982&f=false.
Sehe ich das richtig, dass wir bisher für die besonders falsch erscheinende Variante SAKSUM keinen Beleg haben (abgesehen von dem L&S-Artikel)? Sollte das vielleicht SAXSUM heißen?