Marilu hat mich auf das Wort AL aufmerksam gemacht. Im lateinisch-französischen Wörterbuch ihres Uropas findet sich dazu:
Zitatmot celtique employé par Virgile et dont on ignore le sens.
Außerdem hat sie mir folgendes Zitat aus ihrem "Thesaurus poeticus" mitgeteilt:
ZitatDic quid significent catalecta Maronis? in his al celtarum posuit.
Sie schreibt weiter: "Inzwischen nimmt man an, dass AL für ALLIUM steht. Also Vergilius Maro hätte in seinen "Catalepta" keltischen Knoblauch reingetan. Ich bin mir nicht ganz sicher, dass es stimmt."
Obwohl AL nicht in L&S aufscheint, bin ich dem doch nachgegangen und habe es im Thesaurus gefunden:
Ich verstehe diesen Artikel zwar nicht ganz, habe aber den Eindruck, dass er nicht die Aufnahme von AL ins latin.dic rechtfertigt.
Corinthiorum amator iste verborum, iste, iste rhetor, +namque quatenus+ totus Thucydides, tyrannus Atticae febris, tau Gallicum, min et sphin ut male illisit, ita omnia ista verba miscuit fratri.
In dieser Ausgabe, von der wir nicht wissen, wer der Herausgeber ist, wurde das fragliche Wort AL jedenfalls nicht übernommen.
Und hier habe ich das Gedicht noch einmal gefunden - jetzt aber nebst auf Latein verfasstem Kommentar. Wenn man die Bilder anklickt, kommt man zum e-book von Google, wo man die Seiten zwecks besserer Lesbarkeit heranzoomen kann.
P. Virgilii Maronis Opera Omnia Ex Editione Heyniana: Cum Notis Et ..., Band 3
Auch hier in dieser Ausgabe wurde im Text das Wort AL, das vielleicht gar kein richtiges Wort ist, nicht übernommen. Der vierte Vers tau Gallicum spinae ipsemet male illisit unterscheidet sich im Wortlaut auch erheblich von der Version, die in der BIBLIOTHECA AUGUSTANA gewählt wurde; siehe oben.
Die Lesart, die das Wort AL enthält, stammt offenbar von dem Humanisten Scaliger: Tau Gallicum, min ipsum et al, ei illisit
Darüber hinaus gibt es die Emendation eines gewissen Petitus (oder Petit?), der - wenn ich den lateinischen Kommentar recht verstehe - griechische Wörter ersetzt hat. Standen im Codex also griechische Wörter? Oder hat dieser Petitus die griechischen Wörter durch lateinische ersetzt? Wie auch immer: Diese Textstelle ist jedenfalls sehr dubios, denn angeblich stammen diese Wörter aus "dunklen Glossen". Wenn diese Lesart stimmt, dann handelt es sich offenbar um dialektale Ausdrücke der Einwohner der Stadt Thurii und der Einwohner von Zypern.
Zitat von L&S, Glossa, http://athirdway.com/glossa/?s=glossaglossa, ae, f., = γλωσσα, an obsolete or foreign word that requires explanation; for the usual glossema, Aus. Ep. 127 (in Quint. 1, 1, 35, written as Greek).—Hence, glossae, a term applied to collections of such words with explanations : tesca aiunt sancta esse, Qui glossas scripserunt, Varr. L. L. 7, § 10 Müll; cf. glossema.
Zitat von L&S, Glossa, http://athirdway.com/glossa/?s=ThuriiThūrĭi, ōrum, m., = ουριοι, a city of Lucania, on the Tarentine Gulf, built upon the site of the ancient Sybaris, Varr. R. R. 1, 7, 6; Cic. Att. 9, 19, 3 (and perh., also, id. ib. 9, 3, 5); Caes. B. C. 3, 22; Tac. A. 14, 21; Suet. Aug. 2; Liv. 25, 15, 9. — Called also Thūrĭum, ii, n., = ουριον, Mel. 2, 4, 8; Plin. 3, 11, 15, § 67; Cic. Att. 3, 5 (Thurii, where, perh., Turiis should be read).— Hence, Thūrīnus, a, um, adj., of or belonging to Thurii, Thurine : ager, Cic. Tull. 14; Caes. B. C. 3, 22; Liv. 34, 53; Plin. 16, 21, 33, § 81; Suet. Aug. 3: colles, Plin. 14, 3, 4, § 39; cf. vina, id. 14, 6, 8, § 69: sinus, i. e. the Tarentine Gulf, upon which Thurii was situated, Ov. M. 15, 52: Ornytus,of Thurii Hor. C. 3, 9, 14; so, Viscus, id. S. 2, 8, 20: in Thurinum,into the Thurine territory Caes. B. C. 3, 21.— Plur. subst. : Thūrīni, ōrum, m., the inhabitants of Thurii, Liv. 25, 1; 25, 15; Plin. 34, 6, 15, § 32.
Meiner Ansicht nach müsste man die Handschriften einsehen oder zumindest einen ordentlichen textkritischen Apparat haben, wo die verschiedenen Lesarten dieser Stelle aus den verschiedenen Codices angeführt werden. Mir scheint diese Textstelle ziemlich verderbt zu sein. Es ist alles viel zu vage. Und da das Wort AL sowieso nicht im L&S aufscheint, ist es völlig richtig, dass wir dieses dubiose Wort auch nicht ins latin.dic aufnehmen. Lewis und Short einerseits und Georges andererseits werden schon ihre triftigen Gründe gehabt haben, warum sie dieses Wort nicht ins L&S bzw. den Georges aufgenommen haben. Ohne mich weiter in die Materie zu vertiefen, halte ich diese Entscheidung für richtig.
Zitat von linhart im Beitrag #1 Obwohl AL nicht in L&S aufscheint, bin ich dem doch nachgegangen und habe es im Thesaurus gefunden:
Ich verstehe diesen Artikel zwar nicht ganz, habe aber den Eindruck, dass er nicht die Aufnahme von AL ins latin.dic rechtfertigt.
Meine Übersetzung:
al AVSON. 349,5 glaubte, es handele sich um ein keltisches Wort: Sag, was sollen die Catalepta des Maro bedeuten? In diesen hat er [das Wort] 'al' der Kelten gesetzt. Es folgt nicht [viel] klarer 'tau'. Er betrachtete dabei (bezog sich dabei auf) VERG. catal. 2, korrigierte jedoch den Fehler in einer anderen Ausgabe dahingehend, dass er sich nur noch über tau ausließ.
Wir sehen also, dass sich bereits der spätantike Autor Ausonius (etwa 310-395 n.Chr.) Gedanken zu dieser Textstelle in der sogenannten Appendix Vergiliana gemacht hat - einer Sammlung von Jugendgedichten, die Publius Vergilius Maro zugeschrieben wurde. Da Ausonius sich selbst korrigiert hat, ist davon auszugehen, dass schon damals im 4. Jahrhundert die besagte Textstelle verderbt war.
Sicher ist AL bei Ausonius belegt, kann aber wohl kaum als richtiges Wort angesehen werden.
Interessant ist auch, dass offenbar schon in der Antike und Spätantike verschiedene Textversionen im Umlauf waren. Wie den Kommentaren zu entnehmen ist, gab es drei verschiedene Versionen: eine in den Vergil-Codices, eine bei Quintilian sowie die Lesarten bei Ausonius.
Hier ist das ganze Gedicht von Ausonius, in dem er - wohlgemerkt: im Versmaß! - merkwürdige Wörter oder Formulierungen (jeweils das letzte Wort in den Versen) in der Literatur thematisiert:
14. GRAMMATICOMASTIX
En logodaedalia: stride modo, qui nimium trux frivola condemnas: nequam quoque cum pretio est mers: Ennius, ut memorat, repleat te laetificum gau. livida mens hominum concretum felle coquat pus. Dic, quid significent Catalepta Maronis? In his al . . . . .5 Celtarum posuit, sequitur non lucidius tau: estne peregrini vox nominis an Latii sil? Et quod germano mixtum male letiferum min? Imperium, litem, venerem, cur una notat res? Lyntribus in geminis constratus ponto sit an pons? . . . . .10 Bucolico saepes dixit Maro, cur Cicero saeps? Vox solita et cunctis notissima, si memores lac: cur condemnatur, ratio magis ut faciat lact? An, Libyae ferale malum, sit Romula vox seps? Si bonus est insons, contrarius et reus est sons? . . . . .15 Dives opum cur nomen habet Iove de Stygio dis? Unde Rudinus ait «divum domus altisonum cael»? Et cuius de more, quod adstruit «endo suam do»? Aut de fronde loquens, cur dicit «populea frus»? Sed quo progredior? Quae finis, quis modus et calx? . . . . .20 Indulge, Pacate, bonus, doctus, facilis vir. Totum opus hoc sparsum, crinis velut Antiphilae, pax.
Aus dem Kommentar geht hervor, dass Scaliger meinte, es handele sich bei AL, TAU und MIN um Abkürzungen der Wörter allium, taurus und minium und vertritt die Ansicht, dass Kelten, Gallier, Germanen, Briten und andere Barbaren (= Ausländer, nicht-lateinische Muttersprachler) lateinische Wörter oft zu Kurzwörtern verkürzten. Scaliger meinte auch, dass der Rhetor, von dem Vergil im Catalepton II spricht, und der den Tod des Themistocles verkündete, das Wort taurus zu TAU verkürzte. Der Tod des Themistokles sei nämlich durch Trinken von Stierblut erfolgt; Näheres hierzu siehe http://www.rhm.uni-koeln.de/091/Fuehner.pdf. Mir selbst fehlt allerdings das Hintergrundwissen, um zu verstehen, wie Scaliger auf Themistokles kommt, von dem im Catalepton II überhaupt nicht explizit die Rede ist. Interessant ist allerdings, dass bei dem Stichworteintrag MINIUM im L&S steht, dass dieses Wort bei Quintilian und Ausonius apokopiert (= verkürzt) in der Form MIN vorkommt :
Zitat von L&S, Glossa, http://athirdway.com/glossa/?s=miniummĭnĭum, ii, n. (apoc. form min, Verg. ap. Quint. 8, 3, 28; Aus. Gram. 9) [Span.], I. native cinnabar : Hiberum, Prop. 2, 2, 21.— II. Red-lead, minium, Plin. 33, 7, 40, § 118; Verg. E. 10, 27; Suet. Calig. 18; id. Gram. 11; Vitr. 7, 8, 1.
Ich will mich jetzt auch nicht weiter in diese Materie vertiefen. Ich wollte nur beleuchten, welche immensen altphilologischen Schwierigkeiten diese Textstelle im Catalepton II bereitet.