Grund dafür war der Anfang des L&S-Artikels zu GERO:
Zitat gĕro, gessi, gestum (Part. gen. plur. sync. gerentum, Plaut. Truc. 2, 1, 13; imper. ger, like dic, duc, fac, fer, Cat. 27, 2), 3, v. a.
Jetzt habe ich aber doch Bedenken bekommen. Bei der angegebenen Stelle von Catull steht nämlich nicht ger, sondern inger.
Auf der folgenden Seite findet man nicht nur den lateinischen Text, sondern auch den "apparatus": http://www.catullusonline.org/CatullusOn...s&w_apparatus=1 (Unter "SEARCH" habe ich "inger" eingegeben und "search in apparatus" angekreuzt.)
Ich werde aber daraus auch nicht klüger.
Im Georges finde ich GER nicht, INGER aber schon (mit derselben Catull-Stelle und den für mich schwierigen Angaben "Gloss. II, 79, 53. Vgl. Haupt Opusc. III, 643.").
Hier ist der Anfang des 22-seitigen Thesaurus-Artikels über "gero":
In diesem Ausschnitt ist die gesamte Information "de formis" enthalten. Gerade beim Übergang von einer Seite auf die nächste liest man:
Zitatimperat.: praes.: -e
und es steht nichts von einem Imperativ "ger".
Auch im OLD habe ich keinerlei Hinweis auf "ger" gefunden.
Dagegen findet sich sowohl im Thesaurus als auch im OLD die Form "inger" mit Verweis auf Catull. 27,2. Das scheint aber die einzige Belegstelle zu sein, sodass ich für die Einstufung als hapax leg. plädiere.
ich muss dir wieder einmal ein ganz großes Lob aussprechen für deine hervorragenden Recherchen! Dass du z.B. die mir bisher unbekannte Webseite http://www.catullusonline.org/CatullusOnline/index.php gefunden hast, wo der komplette textkritische Apparat für Catull abrufbar ist, finde ich ganz großartig! Herzlichen Dank!
Lass mich aber erst einmal eins nach dem anderen rekapitulieren, langsam und schrittweise.
O servant boy of old Falernian wine, fill rather bitter cups for me, as orders the law of the mistress Postumia, who is drunker than a drunken grape. But you, depart from this place that pleases you, waters, destroyers of wine, and move to the serious ones. This is pure Bacchus (wine).
Enfant qui verses du vieux Falerne, remplis mes coupes d'un vin plus amer, comme l'ordonne la loi de Postumia, la législatrice de nos orgies, plus ivre qu'un grain de raisin ivre. Et vous, allez-vous-en où bon vous semble, eaux, fléau du vin, émigrez chez les gens sévères. Ici le fils de Thyoné est servi pur.
In Catulls Carmen 27 steht in den meisten Ausgaben heute die Lesart INGER. Wo L&S die Form GER herhaben, ist unklar, denn die wird im textkritischen Apparat nicht genannt. Aus dem textkritischen Apparat auf http://www.catullusonline.org/CatullusOn...tus=1&showall=1 geht hervor, dass mehrere verschiedene Lesarten vorliegen, z.B. ingere und junge. Da es sich beim Versmaß um einen Hendekasyllabus (Elfsilbler) handelt, können die Lesarten ingere und junge nicht richtig sein, weil diese nicht ins Versmaß passen. Interessant ist das Catullzitat bei Aulus Gellius, wo die Form INGER zitiert wird, die perfekt ins Versmaß passt, die jedoch ungrammatisch zu sein scheint. Erlaubt sich Catull hier eine dichterische Freiheit? Das verwundert mich natürlich, denn man sollte doch meinen, dass ein Dichter von Catulls Kaliber nicht auf solche "Tricks" angewiesen ist, um das Versmaß hinzukriegen... Daher finde ich die Konjektur von A. Guarinus gar nicht schlecht: Ich dachte selbst schon daran, dass INFER sowohl vom Sinn als auch vom Versmaß her sehr gut passen würde und obendrein grammatisch korrekt wäre... Immerhin ist die Form INGER laut Formenlehre von Neue in drei Codices (Rotterd., Vat. und Paris.) überliefert und auch das Zitat bei Aulus Gellius ist doch ein starkes Argument dafür, dass die ungewöhnliche Form INGER doch die richtige ist...
Zitat von dem textkritischen Apparat auf http://www.catullusonline.org/CatullusOn...tus=1&showall=1inger mi Gellius 6.20.6, Parthenius 1485 : ingeremi O : ingere mi GR : junge mi MS. 75 a. 1465 ca., unde etiam Heinsius (†1681) 1646-81 et 1742 640 : misce mi Puccius 1502b 1502m 1502vi, 'in ueteri quodam Codice' probante Dousa filio 1592 27 : infer mi A. Guarinus 1521 : misce mi nescio quis ante Ramler 1793 | amariores OGR : meratiores 'doctissimi quidam uiri' ap. Avancium 1495 2v, id est, Sabellicus 1490 ca. (1497) 10r, iterum coni. Markland 1723 75 : auariores Hermolaus Barbarus teste Brodaeo 1555
Catullus quoque elegantissimus poetarum in hisce uersibus
minister uetuli puer Falerni
inger mi calices amariores,
ut lex Postumiae iubet magistrae,
† ebriose ac in† ebriosioris,
cum dicere † ebriosi posset quod erat usitatius acinum in neutro genere appellare, amans tamen hiatus illius Homerici suauitatem † ebriosam dicit propter insequentis ‘a’ litterae concentum. qui † ebrios autem Catullum dixisse putant aut † ebriosos – nam id quoque temere scriptum inuenitur –, in libros scilicet de corruptis exemplaribus factos inciderunt.
Welches Glossarium hier gemeint sind bzw. wo man diese finden könnte, ist mir im Moment nicht klar. Die Opuscula des deutschen Klassischen Philologen Moriz Haupt (19. Jh.) hingegen habe ich bei Wikisource gefunden: http://de.wikisource.org/wiki/Moriz_Haupt
Doch leider hat der Inhalt der Seite 643 im 3. Band der Opuscula überhaupt nichts mit Catull oder mit dem Wort ingerere zu tun... Merkwürdig... Liegt im Georges etwa ein Druckfehler vor? Stattdessen finde ich etwas im 2. Band der Opuscula auf Seite 122 - 123: http://archive.org/stream/mavriciihavpti...e/n134/mode/2up Haupt behandelt dort Catull 27 und die Gellius-Stelle mit dem Catullzitat, doch leider nicht die Stelle mit dem Wort inger.
Es geht mir nun um die Klassifizierung der Sonderform INGER als Hapax legomenon - eine Entscheidung, die mir sehr plausibel erscheint.
Jetzt erst komme ich, was im Georges die Angaben zu dem Glossarium und zu Haupts Opuscula betrifft, voran, nachdem ich lange damit herumgetan habe, ohne zu irgendeinem Ziel zu gelangen:
Es handelt sich also doch um die bereits an anderer Stelle in unserem Forum diskutierten "Cyrilli, Philoxeni aliorumque veterum glossaria Latino-Graeca & Graeco-Latina a Carolo Labbaeo collecta..." (1679), die ich als pdf-File lokal auf meinem Computer abgespeichert habe:
Ich denke, dass es sich bei diesen Glossarien letztlich um ein und dasselbe Glossarium handelt, wo der außergewöhnliche Imperativ INGER aufgelistet ist, auch wenn die Seitenangabe bei Haupt (Seite 93b = Seite 93 im 2., d.h. lateinisch-griechischen Teil) eine andere ist als die, die Georges bei Gloss. II, 79, 53 angibt.
Betrachten wir dieses Glossarium als eigenständigen Beleg für INGER, dann wäre dieses Wort kein Hapax leg. mehr. Wenn wir aber argumentieren, dass der Eintrag INGER in diesem Glossarium im weitesten Sinne nur ein "Zitat" (von Catull) darstellt, dann wäre dieser Beleg kein vollwertiger eigener Beleg mehr. Ebenso wenig betrachte ich die Stelle bei Aulus Gellius als eigenständigen Beleg, da es sich dort ja auch nur um ein wörtliches Zitat handelt.
Abgesehen davon nennen L&S überhaupt kein Glossarium als Beleg, so wie es Georges tut. Wir können uns daher einfach auf L&S berufen und brauchen eigentlich gar keine Rücksicht auf das zu nehmen, was Georges schreibt.
Daher schließe ich mich deiner Auffassung, lieber Linhart, an: Ich denke, die Sonderform INGER als Hapax legomenon zu klassifizieren ist die richtige Entscheidung.
GER:
Da aus dem Thesaurus als unserer höchsten Instanz eindeutig hervorgeht, dass eine Form GER nicht belegt ist, sondern dass der Imperativ, 2. Person Singular, Präsens aktiv immer auf -e endet, so bin ich der Meinung, dass wir uns von L&S distanzieren sollten, denn hier liegt ganz offensichtlich ein Fehler vor.
Ich bin der Meinung, dass GER ungültig ist und demnach nicht ins latin.dic aufgenommen werden darf.
Eigentlich hatte ich mir, als ich deinen Beitrag #3 las und den Screenshot vom Thesaurus sah, bereits dieselbe Meinung gebildet wie du - wollte der Sache aber trotzdem noch mal ein bisschen auf den Grund gehen, weil es mich schon ziemlich irritiert hat, dass ein großer Dichter wie Catull eine an sich falsche Form verwendet, "nur damit sie ins Versmaß passt..." Solche Tricks hat doch ein Catull nicht nötig...
Wobei ich anmerken darf, dass in der Martial-Ausgabe von thelatinlibrary.com auf http://www.thelatinlibrary.com/martial/mart8.shtml die Lesart CONGERE gewählt wurde... Allerdings gehe ich dieser Form jetzt nicht nach, denn diese steht jetzt nicht zur Debatte. Interessant ist jedenfalls, dass L&S genau diese Martial-Stelle explizit nennt, und zwar wird die lange, d.h. nicht verkürzte Imperativform CONGERE zitiert:
Zitat von L&S, Glossa.exe, http://athirdway.com/glossa/?s=congeroB. In partic. [...] 2. To make, build, construct, etc., by bringing or heaping together : Echinades insulae ab Acheloo amne congestae, Plin. 2, 85, 87, § 201: aram sepulcri arboribus, Verg. A. 6, 178: oppida manu, id. G. 1, 256: pauperis et tuguri congestum caespite culmen, id. E. 1, 69.—So of birds, insects, etc.: lucifugis congesta cubilia blattis, Verg. G. 4, 243: nidum, Ser. Samm. 10, 30; and absol. notavi Ipse locum aëriae quo congessere palumbes (sc. nidum), Verg. E. 3, 69; Gell. 2, 29, 5 (cf. the full expression: in nervom ille hodie nidamenta congeret, Plaut. Rud. 3, 6, 51): apes in alvearium congesserant, Cic. Oecon. Fragm. ap. Charis. p. 82 P.: rape, congere, aufer, Mart. 8, 44, 9.—
Wie dem auch sei - richtig zufriedenstellend ist das Ganze nicht. Die Argumentation des Kommentars bleibt m.E. letztlich doch ziemlich spekulativ. Die genannten, nicht einmal eindeutigen Fälle sind mir einfach zu wenige, als dass sie für mich repräsentativen Charakter hätten...
Aber nun soll's gut sein. Catull sei es vergönnt. Er darf uns ruhig mal ein bisschen verwirren, so wie wenn einem der Wein zu Kopf steigt...
Und zum Abschluss gibt's noch eine wohlgemerkt recht eigenwillige moderne Interpretation von Catulls Carmen 27:
Minister uetuli puer Falerni inger mi calices amariores, ut lex Postumiae iubet magistrae ebrioso acino ebriosioris. at uos quo lubet hinc abite, lymphae uini pernicies, et ad seueros migrate. hic merus est Thyonianus.
Zunächst meine eigene grobe und wörtliche Übersetzung:
Junge, der du alten Falernerwein verabreichst, fülle mir "süffigere" Kelche, so wie es das Gesetz der Meisterin Postumia vorschreibt, die trunkener ist als die trunkene Traube. Doch ihr, ihr Wässer, des Weines Verderb, geht weg von hier, dahin, wo es euch beliebt, und wandert zu den gestrengen Leuten. Hier ist der reine Sohn der Thyone.
Und jetzt meine eigene hoffentlich gefälligere und verständlichere Übersetzung:
Junger Mundschenk, der du alten Falernerwein einschenkst, fülle mir die Kelche mit etwas Süffigerem, so wie es die Meisterin Postumia gebietet, die selbst trunkener ist als die trunkene Traube. Doch das Verdünnen des Weines mit Wasser ist dessen Verderb, weg mit dem Wasser, soll das Wasser bleiben, wo der Pfeffer wächst, ist es doch nur etwas für gestrenge Moralprediger und Gesundheitsapostel. Hier frönen wir dem Sohn der Thyone in seiner Reinform.
Das war es, was ich ganz vorsichtig mit "wohlgemerkt recht eigenwillige moderne Interpretation" ausdrücken wollte...
Ich konnt's mir halt net verkneifen, das Video hier einzubinden... Die Geschmäcker sind nun mal verschieden. Meiner ist es definitiv. Und deiner also auch, Linhart. Dann sind wir uns auch hier - wieder mal - 100%ig einig!