paedīa, ae, f. (παιδεία), die Lehre, v. der Arithmetik, Mart. Cap. 7. § 728 (griech. 6. § 578).
Ich würde meinen, dass paedia sowohl die personifizierte Lehre als auch "Lehre" in gewöhnlichem Sinn bedeuten kann. Darauf deutet auch der unbestimmte Artikel "a" in L&S hin.
Daher könnte es ein gültiges Wort sein.
Oder doch nicht? Sind hier wieder Literaturstudien nötig?
Zunächst ist mir ein ausgesprochen dummer Lapsus unterlaufen, der mich sehr zu meinem Leidwesen heute relativ viel Zeit gekostet hat. Ich dachte nämlich, die Belegstelle Mart. Cap. 7, 728 beziehe sich auf Martial Kapitel 7 und seine Epigramme, wo ich aber nicht fündig wurde; außerdem stimmte die Zählung der Verse überhaupt nicht mit der in der Belegstelle genannten überein. Bei Martial spricht man übrigens von Büchern, nicht von Kapiteln, was mich zwar stutzig machte, mich aber dummerweise nicht davon abhielt, trotzdem bei Martial weiterzusuchen. Bis ich schließlich, frustriert, wie ich war, auf die Idee kam, im L&S mal unter den Abkürzungen nachzusehen, was mit Mart. Cap. gemeint ist. Jetzt erst sah ich, dass Mart. Cap. die Abkürzung für Martianus Capella ist - einen Autor, der mir bislang überhaupt nicht bekannt ist.
Nun zum Wort PAEDIA und der Frage, ob es sich bei PAEDIA um einen Eigennamen handelt oder nicht, d.h. ob L&S mit der Großschreibung des Lemmaeintrags oder Georges mit der Kleinschreibung Recht hat.
Wie man auf dem Screenshot sieht, sind in dieser Ausgabe von Martianus Capella an dieser Textstelle gleich mehrere Begriffe groß geschrieben, d.h. quasi als Eigennamen personifiziert: Paedia, Philosophia, Arithmetica. Schaut man in der digitalisierten Ausgabe auf die linke Buchseite, so sieht man, dass dort auch der Begriff Voluptas personifiziert ist! Im L&S sind aber weder philosophia und arithmetica, noch voluptas groß geschrieben, weil alle drei Begriffe ganz normale Wörter sind, bei denen von vornherein überhaupt nicht die Frage gestellt wird, ob es sich eventuell um Eigennamen handeln könnte.
Wie man sieht, wird an der anderen Belegstelle bei Martianus Capella (griech. 6. § 578 ☞ http://www.archive.org/stream/denuptiisp...ge/488/mode/2up) auch das mit griechischen Buchstaben geschriebene PAEDIA mit einem großen Anfangsbuchstaben wiedergegeben:
In der Fußnote steht aber, dass Παιδεια nichts anderes ist als "liberalis educatio", wobei educatio nicht groß geschrieben ist.
Mein Fazit:
Ich halte diese Personifikation von PAEDIA bei Martianus Capella, wie auch die von Philosophia, Arithmetica und Voluptas für eine reine literarische Spielerei*), die wir im Hinblick auf die Frage der Eigennamen und die Aufnahme bzw. Nichtaufnahme dieses Wortes in unser latin.dic nicht zu ernst nehmen sollten. Ich gebe daher dem Eintrag im Georges, wo die Kleinschreibung angegeben ist, den Vorzug: http://images.zeno.org/Georges-1913/K/bi...913-02-1434.png. Es handelt sich bei dem Begriff PAEDIA m.E. nicht um einen Eigennamen, wie auch die Lektüre des Wikipedia-Artikels bestätigt: http://de.wikipedia.org/wiki/Paideia.
Ich persönlich halte daher PAEDIA für zulässig.
Es scheint allerdings so zu sein, dass dieses Wort nur bei Martianus Capella belegt ist und sonst nirgends in der lateinischen Literatur, sicher aber zur Genüge in der griechischen Literatur. Wie sonst kämen L&S auf die Idee, nur die Großschreibung anzugeben?
Wir könnten dieses Wort daher in die Kategorie der Gräzismen verfrachten, oder meinetwegen auch in die der Hapax legomena. Was würdest du dazu sagen, Linhart? Welcher Kategorie würdest du den Vorzug geben?
Als Beugungsformen können wir die der a-Deklination zulassen, aber nach meinem Dafürhalten nur im Singular, denn der Plural erscheint mir vom Sinn her doch sehr fragwürdig, zumal es sich bei παιδεια nicht allgemein um irgendeinen von vielen möglichen Bildungsgängen handelt, sondern um einen zentralen Wertbegriff mit fast schon philosophischer Bedeutung. Was hältst du von diesem Vorschlag, Linhart?
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*) ebenso wie ich unserer ausführbaren Programm-Datei Scrabble3D.exe den Kosenamen "Echse" verpasst habe - aber deshalb ist das Wort Echse noch lang kein Eigenname!
Vielen Dank für diese Recherche! Wie so oft sind wir uns auch diesmal ziemlich einig. Ich möchte PAEDIA in die Kategorie 1 aufnehmen. Da passt es viel besser dazu als bei den hapax legomena, die doch größtenteils ziemlich ausgefallene Wörter sind. Und wir wissen ja nicht ganz sicher, ob es nicht doch noch eine andere Belegstelle gibt.
Ich dachte halt bloß, weil es offenbar gar keine weiteren Belegstellen als die eine bei Martianus Capella für dieses Wort gibt, und dann diese Personifikation... Und weil es im Deutschen auch keinen Plural von ERZIEHUNG gibt (was allerdings ein schwaches Argument wäre)...
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Der Vollständigkeit halber möchte ich noch den παιδεία-Artikel im Pape angeben.
Und jetzt halt dich fest, Linhart: Ich habe da was ganz Tolles gefunden!
Hier steht explizit der Hinweis, dass παιδεία im Griechischen (!) tatsächlich im Plural (!) belegt ist, und zwar bei Thukydides, in der Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Buch 2, Abschnitt 39!
[439] παιδεία, ἡ, Erziehung und Unterricht des Kindes; Aesch. Spt. 18; λέξω τὴν ἀρχαίαν παιδείαν ὡς διέκειτο, Ar. Nubb. 968; Thuc. 2, 39 im plur.; bei Plat. Legg. II, 659 d heißt sie ἡ παίδων ὁλκή τε καὶ ἀγωγὴ πρὸς τὸν ὑπὸ τοῠ νόμου λόγον ὀρϑὸν εἰρημένον; Rep. II, 376 e ἔστι δέ που (ἡ παιδεία) ἡ μὲν ἐπι σώμασι γυμναστική, ἡ δ' ἐπὶ ψυχῇ μουσική, vgl. Conv. 187 d χρώμενον ὀρϑῶς τοῖς πεποιημένοις μέλεσί τε καὶ μέτροις, ὃ δὴ παιδεία ἐκλήϑη; Prot. 338 e παιδείας μέγιστον μέρος εἶναι περὶ ἐπῶν δεινὸν εἶναι, wodurch auch im Allgemeinen der Inhalt der frühesten Erziebung angegeben ist; aber auch die τροφή gehört dazu, Legg. I, 643 c; vgl. Xen., bes. Cyr.; Folgde; übh. wissenschaftliche und künstlerische Bildung, καὶ φιλοσοφία Plat. Ep. VII, 328 a, vgl. Gorg. 470 e; Folgende; Arist. pol. 8, 3, 5 τὴν μουσικὴν εἰς παιδείαν ἔταξαν, zur Bildung des freien Menschen gehörig. – Bei Luc. Amor. 6 collectivisch, παρηκολούϑει παιδείας λιπαρὴς ὄχλος, eine Menge gebildeter od. junger Leute. – Das Jugendalter, die Kindheit, Theogn. 1305. 1348; ἐκ παιδείας φίλος, gleichsam von der Schule an, Lys. 20, 11. – Theophr. braucht es auch von der Pflanzenzucht. – Bei Eur. Troad. 128 wird πλεκτὴ Αἰγύπτου παιδεία vom Schol. = σχοινία aus Byblos gemacht, Segel von Papyrus erkl. (Die Staude wächst am Nil). – Vgl. übrigens παιδία.
[440] παιδία, ἡ, Kindesalter, Jugend, findet sich öfter als v. l. für παιδεία und παιδιά, aber nirgends als sichere Lesart.
[440] παιδιά, ἡ, Kinderspiel, Scherz (παίζω); Eur. Troad. 975; Ar. Plut. 1056; τοὺς παῖδας τοὺς ἐν ταῖς παιδιαῖς νεωτερίζοντας, Plat. Legg. VII, 798 c; παιδιὰς παίζειν καλλίστας, ib. 803 c; Ggstz von σπουδή, Rep. X, 602 b u. öfter, wie ἀνάπαυλα τῆς σπουδῆς γίγνεται ἐνίοτε ἡ παιδιά, Phileb. 30 e; καὶ γέλως, Xen. Cyr. 1, 3, 18; vgl. Arist. rhet. 2, 3, 3; auch von Kampfspielen u. dgl., μαχητικαί, αὐλητικαί, ἐριστικαί, 1, 11, 3; oft bei Sp., wie Plut. – Auch übertr. wie bei uns, ὥςτε σοι τὸν νῠν χόλον παρόντα μόχϑον παιδιὰν εἶναι δοκεῖν, ein Kinderspiel, Aesch. Prom. 314; vgl. Luc. Tox. 36; auch ἐν παιδιᾷ τὸ πρᾶγμα ἐποιοῦντο, ib. 22.
Und jetzt, mein lieber Linhart, kredenze ich dir ein Schmankerl der ganz besonderen Art: den Dativ Plural von παιδεία im Originaltext von Thuydides auf
39 If we turn to our military policy, there also we differ from our antagonists. We throw open our city to the world, and never by alien acts exclude foreigners from any opportunity of learning or observing, although the eyes of an enemy may occasionally profit by our liberality; trusting less in system and policy than to the native spirit of our citizens; while in education, where our rivals from their very cradles by a painful discipline seek after manliness, at Athens we live exactly as we please, and yet are just as ready to encounter every legitimate danger. In proof of this it may be noticed that the Lacedaemonians do not invade our country alone, but bring with them all their confederates; while we Athenians advance unsupported into the territory of a neighbour, and fighting upon a foreign soil usually vanquish with ease men who are defending their homes. Our united force was never yet encountered by any enemy, because we have at once to attend to our marine and to dispatch our citizens by land upon a hundred different services; so that, wherever they engage with some such fraction of our strength, a success against a detachment is magnified into a victory over the nation, and a defeat into a reverse suffered at the hands of our entire people. And yet if with habits not of labour but of ease, and courage not of art but of nature, we are still willing to encounter danger, we have the double advantage of escaping the experience of hardships in anticipation and of facing them in the hour of need as fearlessly as those who are never free from them.
Die Stelle hab ich extra dir zuliebe rausgesucht, lieber Linhart, als Dankeschön dafür, dass du immer schön akademisch kritisch bleibst und mir nicht in allem, was ich sage, einfach blindlings vertraust!
Quintessenz:
• Aufgrund praktischer Erwägungen, • aufgrund der Tatsache, dass im L&S keine Einschränkungen zur Beugung gemacht werden, • aufgrund der Tatsache, dass wir nicht sicher sein können, dass es nicht vielleicht doch noch andere lateinische Belegstellen außer Martianus Capella gibt (eine Kennzeichnung als Hapax legomenon fehlt im L&S), • und aufgrund der griechischen Belegstelle im Peloponnesischen Krieg (2, 39) von Thukydides, wo παιδεία tatsächlich im Dativ Plural belegt ist,
--> pflegen wir das Wort PAEDIA mit dem gesamten Paradigma der a-Deklination im Singular und Plural als gültige Formen ins latin.dic (Kategorie 1 der Gräzismen) ein.
Naja schau, ich habe zwar das Graecum gemacht (das war vor über 30 Jahren!), aber das meiste inzwischen - leider! - wieder vergessen... Holzberg war damals mein Lehrer...
Mittlerweile bedauere ich, dass ich z.B. so einen Text wie den hier zitierten von Thukydides heute nicht mehr übersetzen könnte. 1978 konnte ich das... Immerhin bin ich noch imstande, bei Textvergleichen wie diesem hier zu erkennen, welche Originaltextstelle welcher Passage in der Übersetzung entspricht. Und für solche Wortuntersuchungen im Pape und einen Blick in die relevanten griechische Texte reicht's auch noch. Immerhin etwas!