Zitat von linhart1. Phantastisch, deine Studie zu der Stelle bei Plinius! Ich kann deine Überlegungen gut nachvollziehen.
2. Ich frag mich nur, warum bei OCE in L&S kein Stern dabeisteht. Haben sie das nur vergessen, oder gibt es doch noch andere Belege?
3. Woher wissen sie z.B., dass der Genitiv OCES heißt?
zu 1.: Danke! Freut mich! Wie schön, dass du das alles nachvollziehen kannst. Manchmal denke ich nämlich fast, dass mein Latein im Laufe der Jahre etwas eingerostet ist und ich deshalb keine ordentlichen Übersetzungen mehr hinkriege so wie damals zu Erlanger Zeiten... Aber in diesem Fall ist es vielleicht doch nicht so, sondern der Plinius-Satz ist wirklich eine etwas vertrackte Angelegenheit - egal ob meine Lateinkenntnisse nun "eingerostet" sind oder nicht...
zu 2.: Das fragte ich mich anfangs auch. Aber wenn das Wort OCE angeblich mehrmals vorkommt, dann ist es eben kein Hapax legomenon und wird konsequenterweise auch nicht mit einem Stern * versehen, jedenfalls nicht zu Zeiten des Erscheinens des L&S Dictionary (= 1891). L&S gibt für OCE ja zwei (!) Pliniusstellen (Plin. 11, 47, 107, § 257;) an, von denen ich die erste (Plin. 11, 47) bislang leider nicht (im Internet) finde, weil überall andere Lesarten übernommen wurden und diese nirgends als solche gekennzeichnet sind (was sehr ärgerlich ist, wenn man wissenschaftlich vorgehen will). Ich hatte ja auch die zweite OCE-Stelle (Plin. 11, 107, § 257) erst nach erneutem Intensivgooglen gefunden, und auch nur deshalb, weil in der Textversion der Bibliotheca Augustana bei Plin. 11, 107, § 257 freundlicherweise die spitzen Klammmern gesetzt sind (<d>ocen<t>), was in den anderen eingescannten Faksimile-Ausgaben, die ich im Internet gefunden habe (siehe meinen Beitrag #2), eben nicht der Fall ist: Auf http://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Ro..._Elder/11*.html , findet man mit der Google-Wortsuche genau 29 Treffer für oce, aber kein isoliertes oce, sondern nur die in andere Wörter eingebettete Buchstabenkombination -oce-. Das heißt: Wenn ich nur die Online-Texte anschaue, die ich gefunden habe, dann sieht es so aus, als ob OCE überhaupt nicht oder allenfalls als Hapax legomenon überliefert ist. Das ist aber nur scheinbar so, denn in Wirklichkeit muss es andere Ausgaben geben, die die Lesart OCE und eben nicht die Lesart DOCENT (und/oder irgendeine andere Lesart) übernommen haben. Das ist es ja, warum ich so dringend einen (oder besser noch mehrere) textkritische(n) Apparat(e) einsehen müsste...
Nach meinen Ausführungen in meinem vorigen Beitrag könnte man die DOCENT-Lesart vielleicht als Lectio difficilior betrachten. Wobei ich mir dabei noch nicht einmal 100%ig sicher bin, ob das wirklich eine Lectio difficilior ist, weil ich ja auch kein Experte bin. Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass sich die OCE-Lesart etwas besser übersetzen bzw. im Lateinischen grammatisch und syntaktisch noch etwas besser nachvollziehen lässt als die DOCENT-Lesart. Wenn dem wirklich so ist, dann wäre DOCENT tatsächlich die Lectio difficilior - die die tatsächlichen Belege für OCE jedoch auf 1 oder 0 reduzieren. Das Dumme ist, dass ich nicht weiß, wo die Lesart DOCENT herkommt: Gibt es für DOCENT einen konkreten Beleg in irgendeinem Codex oder handelt es sich nur um eine modernere Konjektur oder Emendation, falls irgendein Codex unleserlich ist? Ist die Lesart DOCENT vielleicht sogar schon eine Konjektur oder Emendation eines antiken oder mittelalterlichen Abschreibers?
zu 3.: Wenn denn wirklich OCE belegt ist und nicht DOCENT, dann steht dieses Wort im Pliniustext im Akkusativ: OCEN. OCEN würde sich sehr gut in das Deklinationsmuster der griechischen a-Deklination einfügen, siehe z.B. das Paradigma von τέχνη (vgl. meinen Beitrag zu EALE):
Zitat von linhartZu OCIS als Positiv: Ich könnte mir vorstellen, dass Whitaker aus der folgenden Passage des L&S-Artikels OCIOR geschlossen hat, dass es diesen Positiv gibt:
A. Posit. (ante- and post-class.): ociter serva cives, Enn. ap. Non. 277, 21, acc. to Vahl. ad Enn. Trag. v. 1: profer ociter, App. M. 1, p. 113, 32; p. 125, 8.—
Offensichtlich gibt es aber nur für das Adverb OCITER Belege, und das steht auch in der Spellchecker-Liste.
Richtig! Die Form OCIS kann, wie du selbst sagst, nur eine logische Rückbildung aus dem Adverb OCITER sein. Die Formen OCIS, OCE (als zweiendiges Adjektiv der 3. Deklination) wären zwar theoretisch richtig und völlig logisch, sind aber eben offenbar nirgends belegt. Von daher ist OCIS (als Positivform von OCIOR, OCISSIMUS) trotz allem als unzulässig einzustufen - es sei denn, man erklärt den Plinius-Vogel OCE nebst allen Deklinationsformen für zulässig und betrachtet OCIS als Dativ/Ablativ Plural von OCE (= eine Art Schwalbe), siehe meinen vorigen Beitrag mit dem denkbaren Deklinationsparadigma nach dem griechischen Muster von τέχνη.
Übrigens: Auf der von dir angegebenen Perseus-Seite (http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text...3Achapter%3D107) steht als Überschrift CHAP. 107. (47.)—THE FEET OF BIRDS. Ich nehme daher an, dass die Zahl 47 nur einer anderen Numerierung des Kapitels 107 entspricht. Das würde heißen, dass es sich bei "Plin. 11, 47, 107, § 257" vielleicht doch nur um eine einzige Stelle handelt.
Gerade im Moment hatte ich einen Geistesblitz in Bezug auf die Lesart OCE in der Belegstelle Plin. 11, 107, § 257!
Man könnte ja "ocen et drepanin" als Apposition (= als nähere Erläuterung) zu "apodas" verstehen. Das würde auch grammatisch hinhauen, weil alle drei Wörter im gleichen Kasus, nämlich im Akkusativ stehen, und dann bräuchten wir auch kein zusätzliches "und" hineininterpretieren, das da nicht steht.
Hier mein Übersetzungsvorschlag mit neuer Kommasetzung im lateinischen Satz:
A qui negant volucrem ullam sine pedibus esse, confirmant et apodas habere, ocen et drepanin, quae ex his rarissime apparet.
A Diejenigen, die verneinen, dass es irgendein geflügeltes Tier ohne Füße gibt (AcI), bestätigen, dass die "Apoden", "oce" und "drepanis", die von diesen höchst selten erscheint, auch welche haben (AcI; et im Sinne von etiam = auch, sogar, hier mit einem Touch von "tatsächlich"). -->
Diejenigen, die verneinen, dass es irgendein geflügeltes Tier ohne Füße gibt, bestätigen, dass die [vermeintlich] fußlosen Vögel Oce und Drepanis, von denen die Drepanis eine sehr seltene Spezies ist, tatsächlich [Füße] haben.
Es fällt mir wie Schuppen von den Augen: Jetzt ist der lateinische Satz für mich plötzlich sonnenklar und dürfte grammatisch wie syntaktisch eigentlich einwandfrei sein! Oce und Drepanis sind keine Vögel, die zusätzlich zur Klasse der Apoden auch noch zu den Fußlosen zu rechnen sind, sondern Oce und Drepanis sind Teilmenge der Klasse der Apoden. Oce und Drepanis sind zwei konkrete Beispiele für Apoden.
Hihi, vielleicht handelt es sich ja um Mauersegler, die offenbar tatsächlich im Fliegen schlafen und sich nur zum Brüten hinsetzen und sonst nie!
Aufgrund meines Geistesblitzes verstärkt sich mein Eindruck, dass die Lesart OCE die richtige sein müsste, egal wie facilior diese lectio auch sein mag...
Ich distanziere mich nunmehr von der englischen und französischen Übersetzung, die ich für falsch halte:
Those authors who deny that there is any bird without feet, assert that those even which are called apodes, are not without them, as also the oce, and the drepanis, which last is a bird but very rarely seen.
Vgl. meine Kritik von gestern Nacht: Der Satz klingt wirklich sehr schön, und irgendetwas einigermaßen Gescheites muss man ja schließlich drucken, aber ehrlich gesagt kann ich nicht recht nachvollziehen, woher der Übersetzer folgende Formulierungen nimmt: which are called a., as also the oce. Ich sehe hierfür keine Entsprechungen im Lateinischen.
Les auteurs qui prétendent qu'il n'y a pas d'oiseaux sans pieds assurent que les apodes (X, 5) en ont, ainsi que l'ote et la drépanis, laquelle se montre très rarement.
as also und ainsi que ist meiner bescheidenen Meinung nach also falsch übersetzt. Es sei denn, es gibt noch eine weitere Lesart, die ich nicht kenne, auf der aber diese Übersetzungen basieren.
In der Naturalis historia werden die Segler „Apoda“ genannt. Diese und auch die durch Carl von Linné für die Gattung und Art eingeführte wissenschaftliche Bezeichnung „Apus“ leitet sich aus dem Griechischen her: άπους, ápus bedeutet „ohne Füße“ – tatsächlich sind die Beine sehr kurz und während des Fluges tief im Gefieder verborgen und nicht zu sehen.
Linhart, ab jetzt gehört zu unserem Gesamtkunstwerk Scrabble3D zusätzlich zur Mathematik und Informatik, zur Lexikologie und Altphilologie, auch noch die Biologie dazu!!! Komplexere Gesamtkunstwerke als Scrabble3D gibt es wohl kaum!
Die Sachen, die wir hier herausfinden, sind einfach der Hammer!
Auf den Mauersegler-Artikel in der Wikipedia hin liefere ich jetzt eine neue, nach meinem eigenen Dafürhalten in grammatischer, syntaktischer und inhaltlicher Hinsicht absolut astreine, tolle Übersetzung unseres Plinius-Satzes <schulter-klopf-klopf-klopf> :
qui negant volucrem ullam sine pedibus esse, confirmant et apodas habere, ocen et drepanin, quae ex his rarissime apparet.
Die [Forscher], die bestreiten, dass es irgendein geflügeltes Tier ohne Füße gibt, [können nämlich] bestätigen, dass die zur Gattung der Apus gehörenden Arten Oce (= Mauersegler?) und Drepanis, von denen die Drepanis*) eine sehr seltene Spezies ist, tatsächlich [Füße] haben.
Jou, Linhart, so passt es jetzt! Schöner krieg ich diese Übersetzung nimmer hin! Super! Bin selber stolz auf meinen Geistesblitz! Hihihi!
Zitat von linhartWas ist eigentlich mit der Anmerkung "al. orcen, oten" am Ende des Artikels OCE:
ocē, ēs, f., a kind of little bird, a swallow, Plin. 11, 47, 107, § 257; v. Sillig, ad h. l. (al. orcen, oten).
Bezieht sich das auf Julius Sillig (über den leider nicht einmal ein Wikipedia-Artikel existiert)?
Hast du schon versucht, etwas von diesem Sillig zu finden?
Oder sollten wir in der lateinischen Literatur nach orcen und oten suchen?
Ich interpretiere den Sillig-Zusatz dahingehend, dass Sillig eben für die Lesart OCE plädiert hat, wobei mir nicht klar ist, was die Abkürzung "ad h. l." bedeuten soll. "al. orcen, oten" interpretiere ich dahingehend, dass andere Altphilologen oder Paläographen (andere = alii) im Gegensatz zu Sillig für die Lesarten ORCEN und OTEN plädieren. Ich sehe jetzt: Offensichtlich liegt die Lesart OTEN der französischen Übersetzung auf http://remacle.org/bloodwolf/erudits/plineancien/livre11.htm zugrunde:
Les auteurs qui prétendent qu'il n'y a pas d'oiseaux sans pieds assurent que les apodes (X, 5) en ont, ainsi que l'ote et la drépanis, laquelle se montre très rarement.
Ich kann gern mal speziell nach Sillig suchen. Generell wäre aber irgendein ordentlicher (!), wissenschaftlicher textkritischer Apparat vonnöten, egal von wem verfasst. Dort müsste unabhängig vom Herausgeber dann auch etwas über Sillig und den Status der Überlieferung stehen: was für Codices es gibt, welche Palimpseste es vielleicht gibt, wie verderbt oder gut erhalten die sind, welche Lesart in welchem Codex steht, welcher Altphilologe was dazu gesagt hat, welche verschiedenen Konjekturen und Emendationen es gibt usw.
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ORCEN, OTEN:
Ja, nach ORCE (Nominativform zur Akkusativform ORCEN) müssten wir deshalb suchen, weil das vierbuchstabige Wort ORCE dummerweise einen eigenen Lemmaeintrag im L&S mit Verweis auf den Lemmaeintrag OCE hat:
orcē, v. oce
Nach OTE (Nominativform zur Akkusativform OTEN) brauchen wir m.E. nicht zu suchen, weil OTE keinen eigenen Lemmaeintrag im L&S hat.
Zitat von linhartÜbrigens: Auf der von dir angegebenen Perseus-Seite (http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text...3Achapter%3D107) steht als Überschrift CHAP. 107. (47.)—THE FEET OF BIRDS. Ich nehme daher an, dass die Zahl 47 nur einer anderen Numerierung des Kapitels 107 entspricht. Das würde heißen, dass es sich bei "Plin. 11, 47, 107, § 257" vielleicht doch nur um eine einzige Stelle handelt.
Gute Beobachtung, Linhart! Dass die Stelle 107 identisch sein soll mit 47, hatte ich bisher übersehen.
Aber du hast Recht, vielleicht ist OCE dann doch ein Hapax legomenon...
Wenn es sich bei Plin. 11, 47, 107, § 257 tatsächlich nur um eine einzige Stelle handelt, worauf deine hervorragende Beobachtung hindeutet, lieber Linhart, würde dies auch erklären, warum ich nirgendwo sonst im Buch 11 bei Plinius auch nur annähernd etwas gefunden habe, was auf eine mögliche Lesart OCE schließen ließe...
Ja, deine Übersetzung ist jetzt absolut einleuchtend. Ich zweifle überhaupt nicht mehr daran, dass OCE ein Vogel ist, und dass "apodas" die entsprechende Gattung oder Familie bezeichnet.
Es dürfte sich aber bei OCE ziemlich sicher um ein hapax legomenon handeln. Ich möchte es daher in die Kategorie 4 geben.
Wenn du zustimmst, würde ich alle Endungen der griechischen Deklination zulassen.
- eine Ausgabe, von der man gar nicht weiß, wer der Herausgeber ist.
Unser ominöser Satz lautet da total anders (darunter meine eigene, freie und interpretierende Übersetzung):
qui negant volucrem ullam sine pedibus esse, confirmant et apodas habere, et hirundinem et drepanin, in eis quae rarissime apparent.
Die [Forscher], die bestreiten, dass es irgendein geflügeltes Tier ohne Füße gibt, [können nämlich] bestätigen, dass die beiden zur Gattung der Apus gehörenden Arten Schwalbe und Drepanis, die innerhalb dieser Gattung zwei sehr seltene Spezies sind, tatsächlich [Füße] haben.
Diese Lesart oder Konjektur kann ich aber aufgrund des Sinns auf Anhieb verwerfen, weil ganz normale Schwalben, bei Juppiter!, ja nun keine extrem seltene Vogelart sind. So geht's nun wirklich nicht!
Zitat von linhartEs dürfte sich aber bei OCE ziemlich sicher um ein hapax legomenon handeln. Ich möchte es daher in die Kategorie 4 geben.
Wenn du zustimmst, würde ich alle Endungen der griechischen Deklination zulassen.
Ich tendiere inzwischen tatsächlich auch zu dieser Sichtweise. Und dann könnten wir tatsächlich die gesamten Beugungsformen, die ich in meinem Beitrag #16 angegeben habe, in unser latin.dic einpflegen.
Nichtsdestotrotz werde ich noch unter Google Books nach der Sillig-Ausgabe weitergoogeln. Mich interessiert das jetzt einfach. Ich habe schon verschiedene von Google Books eingescannte Sillig-Bände gesehen und auch schon einen als pdf heruntergeladen, aber es hat sich dann im Nachhinein herausgestellt, dass in diesem Band leider nicht das Buch XI von Plinius enthalten ist (weil die Google-Angaben zum Inhalt der eingescannten Bücher nicht genau genug sind). Ich bin aber auf einer heißen Spur...
Offenbar ist die Stelle mit unserer Lesart OCE in den Codices extrem verderbt, denn hier haben wir noch eine andere Variante (Konjektur):
qui negant volucrem ullam sine pedibus esse, confirmant et apodas habere breviores et drepanim, quae rarissime apparet.
Die [Forscher], die bestreiten, dass es irgendein geflügeltes Tier ohne Füße gibt, [können nämlich] bestätigen, dass sowohl die Apoden als auch die Drepanis, die eine sehr seltene Spezies ist, kürzere [Füße] haben.
In dem Wort "breviores" muss der Textstring ore das sein, was in anderen Ausgaben als oce gelesen wird.
Erstmalig erfahren wir, was tatsächlich in verschiedenen Codices zu entziffern ist. Im textkritischen Apparat stehen die folgenden Kommentare zur Zeile 19:
• breviores ist eine Konjektur von Detlefsen (= ego) • im Codex E steht rectorem • im Codex D steht ctocen • im Codex R steht ocen • drepanim quae ist eine Konjektur von Detlefsen (= ego) • im Codex D steht drepanim eisque • im Codex E steht drepani in eis quae • im Codex R steht drepanim quae ex his
Das zu wissen ist schon mal recht schön, aber so ganz befriedigend sind diese Angaben denn doch noch nicht. Es wäre besser gewesen, man hätte nicht nur die einzelnen Wörter aus den Codices zitiert, sondern den gesamten Passus ocen et drepanin, quae ex his am Stück, damit man weiß, wie es sich mit dem kleinen Zwischenwort "et" verhält...
Könnte es vielleicht so sein? (ganz sicher bin ich aber nicht, wegen "et") -->
Codex E: ...confirmant et apodas habere rectorem (et?) drepani in eis quae rarissime apparet Codex D: ...confirmant et apodas habere ctocen (et?) drepanim eisque rarissime apparet Codex R: ...confirmant et apodas habere et ocen (et?) drepanim quae ex his rarissime apparet
Mein Kommentar zur Überlieferung:
Die Abschrift im Codex E ist mir unverständlich, es sei denn, rector ist auch ein Vogel und drepani in ist eigentlich als Akkusativ mit Tippfehler Doppel-i drepaniin zu verstehen.
Mit der Lesart im Codex D könnte ich mich schon eher anfreunden, wenn man akzeptiert, dass der Vogel Ctoce heißen könnte. (Parenthese: Es gibt ja auch die Ktenoidschuppe mit Kt- am Anfang, also könnte es auch einen Vogel mit dem ungewöhnlichen Anlaut Ctoce geben.) Allerdings frage ich mich, wie man dann den Nachsatz eisque rarissime apparet = und erscheint diesen sehr selten syntaktisch einwandfrei im Satz unterbringen soll. Es haut irgendwie nicht hin bzw. ergibt keinen Sinn.
Die im Codex R überlieferte Variante ...confirmant et apodas habere et ocen (et?) drepanim quae ex his rarissime apparet ist nahezu identisch mit der Lesart, mit der wir es bisher zu tun hatten: confirmant et apodas habere, ocen et drepanin, quae ex his rarissime apparet. Ich muss sagen, die Lesart des Codex R gefällt mir von den dreien tatsächlich am besten. Insbesondere seit ich meine schöne durch die Mauersegler (Apus apus) biologisch und von Carl von Linné inspirierte Übersetzung geliefert habe (siehe http://17085.homepagemodules.de/t1263f31...html#msg9868343) !
Der Codex R heißt übrigens Codex Riccardianus und wurde etwa im Jahre 1100 geschrieben, wie ich in der Praefatio (Vorwort) gelesen habe. Das nur nebenbei.
Detlefsens Konjektur et apodas habere breviores et drepanim, quae rarissime apparet ist vom heutigen Kenntnisstand ausgehend zwar sachlich richtig - ich finde diese sprachlich mit Verlaub gesagt aber etwas arg hausbacken, und ich würde seine Lesart als Lectio facilior klassifizieren und verwerfen. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass paläographische Gründe gegen diese Lesart sprechen. Wie soll bitteschön aus einem "ctocen" oder "et ocen" ein "breviorem" werden? Wie sieht es mit dem Platz um diese Buchstaben herum aus? Kann ein "rectorem" in ein "breviorem" umgemünzt werden? Hmmmm. Nun ja, ich halte Detlefsens Konjektur einfach für schlecht, wenn auch nicht ganz so übel wie die idiotische Konjektur "hirundo", die im wahrsten Sinne des Wortes den Vogel abschießt...
Auf http://books.google.com.au/books?id=RZA9...epage&q&f=false (Seite 584f) habe ich noch eine Diskussion in einem textkritischen Apparat gefunden (siehe den in diesen Beitrag eingefügten Screenshot). Einen Kommentar gebe ich demnächst ab.
Schade, dass ich kein eingescanntes Faksimile-Google-Book von der Pliniusausgabe von Sillig gefunden habe, wo das Buch 11 behandelt wird.
Nun gebe ich meinen Kommentar zum textkritischen Apparat im Screenshot der Ausgabe ab, von der in meinem vorangegangen Beitrag die Rede ist. Der textkritische Apparat ist ja auf Latein verfasst; deshalb gebe ich zusammenfassend wieder, was dort steht.
Zunächst werden die folgenden Lesarten/Konjekturen/Emendationen aufgelistet:
et hirundinem et ocen oten et rectorem et nectorem et nycterim
Danach gibt der Herausgeber Georges Cuvier der vorliegenden Pliniusausgabe ein Plädoyer für die von ihm gewählte Variante et hirundinem ab. Er verweist vor allem auf eine vergleichbare griechische Textstelle bei Aristoteles, wo auch von Apoden die Rede ist und in einem Atemzug mit der Drepanis auch die Schwalbe (lat.: hirundo) genannt wird. Er meint offenbar, dass diese Textstellen von Plinius und Aristoteles analog zu behandeln seien. Dieses Argument ist natürlich nicht unbedingt kategorisch von der Hand zu weisen, aber zwingend notwendig erscheint mir eine analoge Lesart des griechischen Aristoteles-Textes und des lateinischen Plinius-Textes deswegen trotzdem nicht. Ich finde nach wie vor, dass die Lesart et hirundinem einfach zu banal, zu einfach, zu sehr Lectio facilior ist, als dass ich diese dem Herausgeber Cuvier so einfach abkaufe.
Danach behandelt Cuvier die Emendation nycterin, die er nicht durchgehen lässt. (Übrigens gehen hier die Schreibweisen auseinander: Mal ist von nycterim mit -m, mal von nycterin mit -n die Rede.) Hermolaus habe den Text mit nycterin ausgebessert mit der Begründung, dass in älteren Codices eben nicht oten, sondern nectorem stehe. Diese Begründung von Hermolaus findet bei Cuvier jedoch keinen Beifall, da es sich bei dem Gräzismus nycterim (Akk.) offensichtlich plötzlich um eine Fledermaus (lat.: vespertilio) und nicht mehr um einen Vogel handelt, und da Cuvier die Frage stellt, warum Plinius hier ausgerechnet einen Gräzismus verwenden sollte, wo es doch ein lateinisches Wort für Fledermaus gebe. Weiter argumentiert Cuvier, dass Plinius an anderen Textstellen grundsätzlich das lateinische Wort vespertilio verwendet und nirgendwo sonst nycterin schreibt. Dieses Argument leuchtet mir ein.
Danach lässt er sich noch ein bisschen über das Verhalten und die Eigenschaften von "fußlosen" Vögelchen aus und behandelt dann die Lesarten apodes mit o vs. apedes mit e. Und damit ist Cuviers Textkritik zu unserer Plinius-Stelle schon zu Ende.
Ich bin maßlos enttäuscht, hatte ich mir doch einen textkritischen Kommentar zur Lesart OCE erhofft! Doch kein Sterbenswörtchen, nicht ein einziges Argument für oder gegen die Lesart OCE! Jetzt habe ich mir diesen auf Latein verfassten textkritischen Apparat von Cuvier zu Gemüte geführt und Zeit damit vertan, mit dem Ergebnis, dass die Lektüre der Kommentare von Cuvier uns im Grunde herzlich wenig bringt. Schade!!!
Immerhin kann ich mich Cuviers Argumentation gegen die Emendation nycterin anschließen, denn die klingt mir plausibel. hirundo kaufe ich Cuvier jedoch nicht so ohne Weiteres ab. Dafür ist mir sein Aristoteles-Argument einfach zu schwach.
So, wie soll es nun mit OCE weitergehen?
Wenn ich nur eine Sillig-Ausgabe im Internet finden könnte!!! Ich würde so gern Silligs Argumentation für die Lesart OCE sehen!!!