Die wahren "Latin Lovers" wohnen in Deutschland. Nirgendwo sonst erlebt das Lateinische eine vergleichbare Renaissance. Was aber macht diese "tote" Sprache so attraktiv? GEO.de hat den Latinisten und Bestsellerautor Wilfried Stroh befragt.
Quid ars facit, Professor Valahfride Stramen? Was macht die Kunst? Wilfried Stroh: Der Kunst geht’s gut, mir auch, aber leider gilt auch für mich: "Ars longa vita brevis." Lang ist die Kunst, kurz das Leben. Man hat immer viel zu wenig Zeit.
Ihr Buch "Latein ist tot. Es lebe Latein!" ist ein Bestseller mit inzwischen acht Auflagen. Wie erklären Sie sich dieses Interesse? Die Leute lernen in dem Buch, das Lateinische aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Viele denken ja: Latein, das ist eben nur die Sprache der alten Römer. Aus und vorbei. In Wirklichkeit hat das Lateinische in unserer Kultur bis heute eine ungeheure Bedeutung. Man denke nur an das lateinische Alphabet, das fast alle Schriftsysteme aufgesogen hat. Diese einzigartige Erfolgskarriere der lateinischen Sprache habe ich beschrieben. Außerdem gibt es in unserer Gesellschaft wieder eine Rückbesinnung auf eher konservative Werte. Das begünstigt die Renaissance antiker Sprachen und Wertvorstellungen.
Sind gerade wir Deutschen ein Volk von "Latin Lovers"? Ja, das scheint so. Heute lernt fast jeder dritte Gymnasiast in Deutschland Latein, pro Jahr werden es etwa fünf Prozent mehr Lateinschüler. Selbst in Österreich und der Schweiz, die uns kulturell doch so nahe stehen, stagniert das Lateinische an den Gymnasien oder geht zurück. Wir haben noch keine Erklärung dafür. Das ist ein Phänomen.
Sie schreiben in ihrem Buch: "Nur weil Latein gestorben ist, konnte es unsterblich werden." Was genau meinen Sie damit? Ich denke bei diesem Satz nur an den ersten und meines Erachtens wichtigsten "Tod" des Lateinischen: Um die Zeitwende hört die lateinische Sprache auf, sich fortzuentwickeln. Das heißt, die Sprache Ciceros ist dieselbe wie die einer mittelalterlichen Papstenzyklika oder eines heutigen lateinischen Chatclubs. Hätte es diesen Tod nicht gegeben, hätte sich die Sprache weiterentwickelt und könnte auch untergehen. So aber ist sie ewig dieselbe, unveränderlich und unsterblich. Denn dass man Latein über die Zeiten hinweg verstehen kann, verleiht ihm eine gewisse Unsterblichkeit. Lebendige Sprachen ändern sich beständig und werden dadurch unverständlich.
Wie ist es bei der deutschen Sprache? Schon die Lutherbibel macht uns große Schwierigkeiten, und das Nibelungenlied verstehen wir gar nicht mehr. Und noch ein Stück weiter zurückgedacht in der Geschichte: Wenn Hermann der Cherusker mit seiner Thusnelda heute zu uns käme, so könnten wir sein Germanisch gar nicht mehr verstehen. Zum Glück sprach er auch Lateinisch.
Wo ist denn Latein heute noch lebendig, sieht man einmal vom Schulunterricht ab? Es gibt bis heute eine moderne lateinische Dichtung mit internationalem Publikum, es existieren lateinische Chatclubs und Wettbewerbe, es gibt Wikipedia auf Lateinisch. Es wäre sogar möglich, das Lateinische wieder als Wissenschaftssprache zu etablieren. Ich schreibe gerade eine Ehrendoktorurkunde für Herzog Franz von Bayern – selbstverständlich auf Latein.
Viele Eltern und Schüler fragen sich: Warum viel Zeit und Mühe in das Erlernen einer Sprache investieren, in der man sich nirgends unterhalten kann? Natürlich kann man sich in dieser Sprache unterhalten. Ich habe heute morgen noch lateinische E-Mails verschickt, spreche mit Studenten und Freunden regelmäßig Lateinisch. Als vorherrschende Umgangssprache existiert es natürlich nicht mehr.
Das sagt noch nichts aus über die Gründe, Latein zu lernen. Wer Latein kann, hat einmal ganz vordergründige Vorteile: Man lernt die romanischen Sprachen Französisch, Spanisch und Italienisch viel leichter. Aber der Hauptgrund ist ein anderer: Während ich heute in fast aller Welt auf Englisch kommunizieren kann, so hilft das Lateinische, sich über die Zeiten hinweg zu verständigen. Es erschließt den Zugang zu zwei Jahrtausenden Geistesgeschichte. Die schwerste Schlappe für das Lateinische war, als es im 18. Jahrhundert als Umgangssprache der Politik und Wissenschaft völlig durch die Nationalsprachen ersetzt wurde. Eine Katastrophe.
Jetzt übertreiben Sie aber! Keineswegs. Wir können uns in der Wissenschaft gar nicht mehr adäquat verständigen und müssen aufs Englische ausweichen, das ja nur Englischsprachige perfekt beherrschen. Die machen sich über unser Englisch lustig – und das mit Recht. Seit den fünfziger Jahren wird Latein als Zugangsvoraussetzung für das Studium bestimmter Fächer mehr und mehr abgeschafft. Persönlich finde ich das töricht. Wer als Germanist oder Romanist kein Latein kann, der schneidet sich ganz einfach die Wurzeln ab.
Soll man sich nicht besser mit modernen Fremdsprachen beschäftigen? Das schließt sich doch nicht aus. Moderne Fremdsprachen sind sehr wichtig, das ist doch klar. Wenn ich noch einmal auf die Welt kommen würde, würde ich als Zweitsprache auf jeden Fall noch Chinesisch lernen. Ich sage nur: Das Lateinische verdient eine faire Chance. Es umgibt uns überall. Im Deutschen, wo wir massenhaft Wörter lateinischen Ursprung haben: Kelch, Markt, Fenster. Aber auch in Werbung und Medien: Audi, Pro Domo, Arte und vielen anderen Produkten mehr.
Viele Schüler hält vom Lateinlernen ab, dass Latein als trockenes Paukfach gilt. Ein Klischee? Früher war das manchmal tatsächlich so, aber der heutige Unterricht ist viel menschenfreundlicher geworden. Geübt werden muss überall, das ist bei Spanisch nicht anders als bei Latein. Ich würde einem Schüler, der Angst vor Latein hat, zu unseren lateinischen Festspielen und zu Schnupperkursen einladen. Im Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke in München kann man immer mal wieder Latein zum Anfassen erleben, es gibt Sketche und Lieder auf Latein, Redner erscheinen in der Toga, also im altrömischen Gewand.
Gäbe es eine Zeitmaschine, mit der Sie ins alte Rom reisen könnten: Würde man Sie dort verstehen? Ja, selbstverständlich. Wir wissen genau, wie die Römer gesprochen haben, vor allem durch die Quellen der antiken Sprachwissenschaftler, welche die einzelnen Laute und Lautwerte beschrieben haben. Das vielleicht einleuchtendste Beispiel ist die Aussprache von "Cäsar". Dass man dies wie "Kaisar" ausgesprochen hat, ist vollkommen sicher. Daher stammt unser heutiger Begriff "Kaiser".
Wenn Sie nur einen Satz auf Lateinisch bewahren und zum geflügelten Wort für alle machen könnten – welcher Satz wäre das? "Amor docet musicam": Die Liebe lehrt die Musik bzw. die Musenkunst. Ohne Liebe ist alles nichts. Leider stammt diese Redewendung ursprünglich von Euripides, einem Griechen.